Prozesserklärung der Angeklagten im Rondenbarg-Prozess

Heute war der erste Prozesstag im G20-Rondenbarg-Verfahren vor dem Landgericht in Hamburg. Zwei der Angeklagten haben während des Prozesses eine von allen Angeklagten gemeinsam getragene Prozesserklärung verlesen.

Gemeinsame Prozesserklärung der Angeklagten im Rondenbarg-Prozess

Gipfelproteste wie in Hamburg haben eine lange Tradition: Seit Jahrzehnten gehen weltweit Hunderttausende gegen die G20 auf die Straße. Und das hat auch gute Gründe. Die G20 gründeten sich im Zuge der Asienkrise 1999. Sie hinterließ tiefe Spuren weltweit: Massive Sozialkürzungen, Arbeits- und Wohnungsverluste, Hunger, Armut, Elend für Millionen von Menschen. Die G7 – selbst ein Produkt der großen globalen Krise in den 70er Jahren – initiierten deshalb ein Treffen der 20 mächtigsten Staaten der Welt, das von nun an jährlich stattfindet. Ihr erklärtes Ziel ist es, die Weltwirtschaft zu stabilisieren. Aber die nächste Erschütterung ließ nicht lange auf sich warten. 2008 folgte ein erneuter Crash, die größte Wirtschafts- und Finanzkrise seit dem zweiten Weltkrieg. Wieder wurden Krisenlasten auf dem Rücken der Bevölkerung abgewälzt.

Millionen sehen in den G20 deshalb zu Recht die Vertreter eines Systems, das dafür da ist, für ein paar Wenige privates Kapital anzuhäufen, statt allen ein gutes Leben zu sichern. Es sind die Widersprüche dieses Systems, die uns von einer Krise in die nächste jagen: Politiker und Konzerne wollen stetiges Wachstum, aber finden nicht die Märkte, um die Waren auch abzusetzen. Sie müssen global zusammenarbeiten und doch will am Ende jeder nur seinen privaten Gewinn mehren. Das wurde auch beim Gipfel in Hamburg deutlich: Die Teilnehmenden des Gipfels konnten sich nicht einmal auf das Pariser Klimaabkommen einigen und sprachen stattdessen von Wachstum durch Klimaschutz. So eine Dreistigkeit.

Ein Schwerpunkt auf der Agenda beim Gipfel 2017 war die sogenannte „Partnerschaft mit Afrika“. Wolfgang Schäuble sprach die imperialistischen und neokolonialen Interessen darin offen aus: „Die Entwicklung neuer Märkte und Wachstumspotentiale mit unseren afrikanischen Partnern liegt im ureigenen Interesse Europas“, so sein Statement. Weite Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge in afrikanischen Ländern wurden damit privatisiert und profitorientiert umgebaut. Gewinner sind Konzerne, die dadurch Zugang zu neuen Investitionsfeldern und Absatzmärkten bekamen. Unternehmensverbände waren von Anfang an systematisch in die Aushandlungsprozesse miteinbezogen.

In Hamburg traf sich ein Gipfel von Umweltzerstörern und Klimaleugnern, Patriarchen und Rassisten, von Kriegstreibern und Militaristen. Scholz, Merkel, Trump, Erdogan, Putin, Macron – sie stehen stellvertretend für die Politik, mit der sich Konzerne diesen Erdball unter den Nagel reißen, mit der durch Krieg, Armut und Klimawandel Millionen die Lebensgrundlage entzogen wird. In Hamburg wurde erneut für alle sichtbar: Die Politik der G20 ist eine Politik der Gewalt und Unterdrückung.

Zehntausende sind nach Hamburg gereist, weil sie diese Klassenherrschaft ablehnen. Das System der G20 ist ein System für Banken und Konzerne gegen die Interessen von Arbeiter*innen, kleinen Bäuer*innen und Angestellten weltweit. Ein Großteil der Menschen kann in diesen Eigentums- und Produktionsverhältnissen nur verlieren. Jahr für Jahr verbarrikadieren sich die G20 deshalb vor der eigenen Bevölkerung hinter Stacheldraht, Polizei und Militär. Jahr für Jahr sind Kritiker*innen der Gipfel mit massiver Repression konfrontiert. So auch in Hamburg: In der Innenstadt wurde eine 38 Quadratkilometer große Demonstrationsverbotszone verhängt. Die Polizei räumte genehmigte Protestcamps gegen ausdrückliche Gerichtsbeschlüsse. Mehr als 30 Journalist*innen wurde der Zugang zum Gipfeltreffen aus politisch motivierten Gründen entzogen. Grenzkontrollen wurden zeitweilig wiedereingeführt. Die Polizei wurde enorm militarisiert. Die Bundeswehr setzte ein Kriegsschiff und Unterwasserdrohnen ein. Hamburg schaffte sich ein Kampffahrzeug zur Aufstandsbekämpfung an. Und noch pünktlich vor dem Gipfel wurden die Paragrafen „Widerstand“ und „tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte“ verschärft und seither inflationär gegen Demonstrierende eingesetzt.

Zu Beginn der Proteste in Hamburg wurden dann anreisende Demonstrant*innen bereits am Bahnhof systematisch abgefilmt und großflächig überwacht. Hunderte Demonstrant*innen beraubte man unter fadenscheinigen Gründen tagelang ihrer Freiheit. Ein ganzer Bus der Jugendorganisation „Die Falken“ wurde direkt bei der Anreise festgenommen und in die Gefangenensammelstelle gebracht. Feiernde wurden mit Wasserwerfern von der Straße geprügelt und die Auftakt-Demo am Donnerstag, den 6. Juli, unter Einsatz von brutaler Gewalt gleich zu Beginn von der Polizei zerschlagen. Unzählige Demonstrant*innen erlitten dabei schwere Verletzungen. Die Polizei setzte Gummigeschosse ein und griff sogar gekennzeichnete Anwält*innen, Sanitäter*innen und Journalist*innen an. Das SEK stürmte mit Kriegswaffen in Hamburg Häuser, sie terrorisierten ganze Straßenzüge, während die behaupteten Anlässe oft keiner Überprüfung standhalten. Insgesamt entstand der Eindruck: Die Polizei dreht völlig frei. Urteile werden ignoriert, das Demonstrationsrecht und die Pressefreiheit werden mit Füßen getreten. Schon 2001 wurde ein junger Demonstrant bei Gipfelprotesten in Genua von Polizisten getötet. Auch in Hamburg hätte es Tote geben können.

Trotz dieser Drohkulisse im Vorfeld kamen 70.000 Menschen zur großen Abschlussdemo am Samstag, insgesamt gingen im Verlaufe der Proteste weit über hunderttausend Menschen gegen die Politik der G20 auf die Straße. Die Demonstration am Freitagmorgen war Teil dieses breiten Protestes. Und das war auch gut so. Am Morgen des 7. Juli wurde breit aufgerufen, die Zufahrtswege zum G20-Gipfel zu blockieren. Aber für viele bestand dazu kaum Gelegenheit: Der Demonstrationszug am Rondenbarg wurde nach nur 20 Minuten von gepanzerten und schwer bewaffneten Polizisten und zwei Wasserwerfern eingekesselt, angegriffen und innerhalb von Sekunden vollständig zerschlagen. Wer nicht rechtzeitig wegkam, bekam den Schlagstock zu spüren. Das war keine „Festnahme“. Aus der Berichterstattung ergibt sich das Bild eines regelrechten Überfalls der Polizei auf die Demonstration. Es waren acht Rettungswagen nötig, um die 14 teils schwer verletzten Demonstrant*innen ins Krankenhaus zu bringen. Keiner der beteiligten Polizisten wurde verletzt, keiner angeklagt. Stattdessen stehen wir heute vor Gericht.

Die Anklage, die hier erhoben wird, steht in einer Linie mit den Einschnitten in die Grundrechte rund um den G20-Gipfel in Hamburg. Über 3500 Ermittlungsverfahren, dreieinhalb Jahre Haft für einen vermutlichen Flaschenwurf. Die Medienplattform linksunten.indymedia wurde verboten und gegen hunderte Demonstrant*innen wurde mehrfach großflächig öffentlich gefahndet. Olaf Scholz, damals noch Oberbürgermeister Hamburgs, hetzte gegen die Protestbewegung mit den Worten „Wir kriegen euch alle“. Wir stehen hier vor Gericht, weil Polizei und Staatsanwaltschaft offensichtlich verzweifelt versuchen, ihre Erzählung vom Feindbild „Demonstrant*in“ aufrecht zu erhalten und damit die Einschränkung von Grundrechten und die Polizeigewalt zu legitimieren.

Der Prozess, der heute beginnt, hat Bedeutung weit über die hier anwesenden und fast 80 weiteren Angeklagten hinaus. Niemandem wird eine individuelle Tat vorgeworfen, stattdessen soll eine bloße Beteiligung am Demonstrationszug ausreichen. Dafür muss der Demonstration der politische Charakter aberkannt werden – obwohl in den Ermittlungen von Transparenten und Sprechchören berichtet wird. Obwohl es Bilder von Fahnen und Megafon gibt. Obwohl die Demo als Teil der Proteste betrachtet wird, die am Freitagmorgen die Zufahrtswege zum Gipfel blockieren wollten. Nicht nur diese Demo, sondern die gesamten Aktionen gegen den G20-Gipfel und überhaupt jeder gut koordinierte Protest wird durch die Argumentation in der Anklageschrift kriminalisiert.

Das Urteil, dass hier gefällt werden soll, wird entscheidend sein für jeden Menschen, der künftig an einer Demonstration teilnehmen möchte. Wenn jede Demonstrant*in damit rechnen muss für eventuelle strafbare Handlungen aus der Menge heraus hinter Gittern zu landen, werden viele von der Teilnahme an Kundgebungen, Demos oder Streiks abgehalten. Und wenn im Nachhinein die Organisation von Protest und öffentlichen, legalen gewerkschaftlichen Treffen in einer Akte landen, und auf Basis davon Demonstrant*innen ins Gefängnis gesteckt werden sollen, werden sich viele zweimal überlegen, ob sie sich engagieren wollen. Was bleibt dann noch übrig vom Versammlungsrecht? Es stellt sich also ganz direkt die Frage an das Gericht: Welcher Entwicklung wollen Sie einen Präzedenzfall verschaffen?

Die Gewalt, mit der sich die Profitlogik des Kapitalismus auf diesem Erdball breit macht, ruft weltweit Proteste hervor. Immer erbitterter werden die Kriege um Rohstoffe und Absatzmärkte geführt. Die weltweiten Rüstungsausgaben steigen immens. Die BRD als viertgrößter Waffenlieferant der Welt ganz vorne mit dabei. Immer näher rückt der Klimakollaps. Doch statt ernsthaft etwas zu verändern, werden in Deutschland ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, damit RWE auch noch in zehn Jahren Kohle fördern und verbrennen kann. Selbst für angeblich grüne Energien werden Menschen in Afrika von ihrem Land vertrieben und ihnen ihr Wasser geraubt. Immer mehr Menschen fliehen vor dem Elend. Jedes Jahr sterben dabei allein im Mittelmeer Tausende. Doch anstatt den Menschen Schutz zu bieten, rüstet die EU weiterhin die Grenzen auf und Deutschland schafft das Asylrecht faktisch ab.

Aber diese Zustände sind von Menschen gemacht. Und genauso können wir Menschen sie verändern. Deswegen werden linke Bewegungen, die klare Perspektiven haben und zeigen, dass eine andere Welt möglich ist, zunehmend mit Repression überzogen und bereits für ihre Gesinnung kriminalisiert. Davon werden sich fortschrittliche Proteste aber nicht einschüchtern lassen, ganz im Gegenteil. Die Erstarkung rechter, rassistischer Parteien und Bewegungen weltweit erfordern unseren entschlossenen Widerspruch. Gerade angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Krise, der massiven Aufrüstung, die einhergeht mit Kürzungen bei Bildung, Gesundheit und Sozialem sowie der wachsenden Umweltzerstörung sind Proteste heute mehr als notwendig.

Wir alle waren mit unterschiedlicher Motivation und verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten Teil der G20-Proteste. Die Welt wie auch unsere eigenen Lebensverhältnisse stehen fast 7 Jahre nach dem Hamburger G20-Gipfel an einem anderen Punkt – doch dieses Verfahren hat uns nun zusammengeführt. Was uns hier und heute eint ist der Wunsch nach einer Gesellschaft, in der Menschen nicht vor Hunger sterben, obwohl es genug zu essen gibt, in dem sich niemand unter Bombenhagel zur Nachtruhe legen muss, in der diese Grausamkeiten zur Vergangenheit gehören, in der die Natur geschützt wird und in der alle zusammen ein menschenwürdiges Leben führen können. Dafür waren wir immer wieder auf der Straße, dafür setzen wir uns heute und auch in Zukunft entschieden ein.